Rolf und das Weihnachtswunder

Weihnächtliche Geschichte zum Vorlesen

"Rolf, komm herein, es gibt bald Abendessen!"
Mama hatte die Tür nur einen Spaltbreit geöffnet. Es war der 24. Dezember, Heiligabend. Einige Schneeflocken traten durch den Türspalt und setzten sich auf Mamas Hochsteckfrisur. Ich kicherte. Schnell warf ich noch einen letzten Schneeball, dem meine Katze Lilly freudig hinterher sprang.
"Ich komme!"
Eigentlich hatte ich es gar nicht eilig, ins Haus zu kommen. Zwar mochte ich Heiligabend. Aber in diesem Jahr war alles anders: Mein Bruder Jens, der genau zehn Jahre älter war als ich, brachte seine erste Freundin mit zur Familienfeier. Bis zu seinem Auszug vor einem Jahr hatten wir noch regelmäßig zusammen Fußball gespielt, und manchmal hatte er mich auch auf seinem Moped mitgenommen. Aber dann war er 18 geworden und in die Stadt gezogen. Und hatte Carina kennengelernt. Ein Mädchen! Pah!
"Komm mit, Lilly!" Ich nahm die Katze mit ins Haus. Dort gesellte sie sich sofort zu Ilvy, unserem zweiten Stubentiger, die zufrieden eingerollt vor dem Kamin lag. 'Wenigstens wird Carina heftig niesen müssen, wenn sie kommt.' dachte ich mit einer gewissen Befriedigung.
Carina litt unter einer Tierhaarallergie.

Als ich ins Wohnzimmer trat, konnte ich mir einen Blick unter den prächtig geschmückten Weihnachtsbaum nicht verkneifen. Ob sich wohl mein sehnlichster Wunsch erfüllen würde?
"Du suchst wohl ein Geschenk auf vier Beinen!" lachte Papa. Ich stemmte die Fäuste in die Seiten. "Hast du etwas dagegen?"
"Aber Rolf, wir haben doch schon darüber gesprochen", Mama seufzte, "zwei Katzen sind genug."
"Vorher hatten wir auch drei!" protestierte ich.
Genau genommen bis vor drei Monaten. Tiger war mein Kater gewesen; ein sehr eigensinniges Tier mit einem prächtigen rotweißgetigerten Fell und weißer Schwanzspitze. Wir waren oft gemeinsam spazieren gegangen und hatten draußen herumgetollt. Bis er eines Tages verschwunden war. Eine Nachbarin sagte später, zwei Straßen weiter sei ein Kater von einem Auto erfasst worden, der genauso ausgesehen hatte wie Tiger. Ich hatte eine ganze Woche lang geweint.
Für mich gab es deshalb nur einen Wunsch zu Weihnachten: Einen Kater, der genauso aussah wie mein Tiger!

In Gedanken versunken, nahm ich kaum die Türglocke wahr. Mein Bruder war gekommen!
Aber wo war Carina? War sie etwa verhindert? Mein Herz machte einen freudigen Sprung.
"Carina kommt später", sagte mein Bruder, den fragenden Gesichtern zugewandt, "sie arbeitet heute länger." Carina war Altenpflegerin. Ich verzog das Gesicht.
"Na, Kumpel, dann wollen wir beide doch mal sehen, was der Weihnachtsmann in diesem Jahr alles gebracht hat!" Mein Bruder stieß mich freundschaftlich in die Seite.
Es wurde ein sehr gemütliches Weihnachtsessen, und ich erzählte meinem Bruder, was ich in den letzten Wochen in der Schule alles erlebt hatte. Endlich klingelte Papa mit einem Glöckchen - Bescherung!
Ich sauste zum Christbaum und wickelte sorgfältig ein Geschenk nach dem anderen aus. Ein neues Computerspiel, ein Mini-Heimwerker-Set und eine Autorennbahn. Aber...war das alles?
Fragend sah ich meine Eltern an.
"Ach Rolf, du hast nicht wirklich gedacht, dass wir uns noch einmal eine dritte Katze anschaffen. oder?" Mama sah mich besorgt an. "Er war keine Katze, er war ein Kater!" stieß ich wütend hervor, "und er war mein Kater!" Mama seufzte und wollte mich in den Arm nehmen, doch ich stieß sie weg. Ich hatte nicht einen Augenblick damit gerechnet, dass mir meine Eltern diesen Wunsch abschlagen würden. Ich spürte, wie mir die Tränen am Gesicht herunterliefen.

Auch in der Abendmesse konnte ich an nichts anderes denken als an das Geschenk, das mir meine Eltern verwehrt hatten. Und die Aussicht auf Carina, die später noch vorbeikommen wollte, wirkte auch nicht eben stimmungsaufhellend. Ich hörte kaum zu, als der Pfarrer die Weihnachtsgeschichte erzählte, aber als er den Kirchenbesuchern nach der Messe nacheinander die Hand schüttelte und ein frohes Fest wünschte, fiel ihm mein trauriges Gesicht auf.
"Na, Rolf", sagte er freundlich, "so traurig? Hast du denn heute keine tollen Geschenke bekommen?"
"Ich habe jedenfalls nicht das bekommen, was ich mir gewünscht habe!" sagte ich trotzig.
"Nun, es ist Weihnachten", sagte der Pfarrer versonnen, "in diesen Tagen ist alles möglich. Wer weiß, vielleicht geschieht ja noch ein kleines Wunder!."
"Quatsch", murmelte ich, aber ich passte auf, dass es der Pfarrer nicht mehr hörte.

"So, jetzt machen wir es uns noch einmal richtig gemütlich!" Papa und Jens zogen sich die schneenassen Schuhe aus und Mama stellte eine Schale selbst gebackener Plätzchen auf den Ecktisch.

"Nun schau mal nicht so traurig", mein Bruder stieß mich wieder in die Seite, "pass auf, nachher spielen wir eine Runde mit deiner neuen Rennbahn!"
Missmutig starrte ich auf mein Weihnachtsgeschenk. Gerade als ich mich aufraffen wollte, die Rennbahn zu holen, klingelte es an der Tür.
"Das wird Carina sein!" Mein Bruder sprang vom Sofa auf. Ich seufzte und setzte ein gelangweiltes Gesicht auf. Wenig später hörte ich die Freundin meines Bruders im Flur niesen. Ich grinste zufrieden. Aber...Lilly und Ilvy lagen doch friedlich zusammen vor dem Kamin...?
Bevor ich den Gedanken zu Ende denken konnte, flog die Tür auf, und Carina betrat das Wohnzimmer. Eingemummelt in ihre dicke Steppjacke und mit Schneeflocken auf dem Haar, sah sie aus wie ein Eskimo. In der Hand trug sie einen Katzenkorb, auf den sie eine Decke gelegt hatte.
Mama, Papa, Jens und ich starrten sie verblüfft an.
"Frohe Weihnachten allerseits!" sagte Carina. "Ich weiß, ich...hatschi! Also, was ich sagen wollte: Rolf hat sich doch so sehr einen neuen Kater gewünscht, und da dachte ich...hatschi! Also, jetzt, wo Tiger gestorben ist..."
"Mama! Ich kriege also doch noch einen Kater? Oh, wie sieht er aus? Darf ich ihn mir ansehen?" Ich zappelte aufgeregt und zupfte an der Decke herum.
Mama fand als Erste die Sprache wieder. "Carina, wir hatten eigentlich beschlossen, dass zwei Katzen genug sind." Sie zögerte. "Na, schauen wir uns den kleinen Kerl erst einmal an..."
Carina zog die Decke weg und öffnete den Korb. "Er hat die ganze Fahrt über geschlafen. Ich habe im Tierheim nach einem rotweißgetigerten Kater gefragt, weil doch Tiger so ausgesehen hat...Was ist mit euch?"
Mama, Papa, Jens und ich starrten entsetzt auf den Kater, der sich gemächlich aus dem Korb schälte. Ilvy und Lilly, durch den plötzlichen Aufruhr aufgeweckt, kamen interessiert näher.
Beim Blick auf den Kater stürzten sie plötzlich begeistert in Richtung Katzenkorb. - Sie hatten ihren alten Spielgefährten erkannt!

Wir alle gingen an diesem Abend spät ins Bett. Bis tief in die Nacht hinein versuchten wir die verrückte Geschichte zu verstehen, die da geschehen war. Doch nach und nach lüftete sich das Geheimnis um meinen tot geglaubten Kater.
Carina hatte im Tierheim nach einem rotweißgetigerten Kater gefragt. Daraufhin war ihr Tiger präsentiert worden, der vor exakt drei Monaten von einem jungen Mann gebracht worden war. Das Tier war ihm vors Auto gelaufen. Tiger war bei dem Unfall allerdings nicht ums Leben gekommen; nur leicht verletzt, hatte er sich im Tierheim gut erholt. Da er jedoch keinen Chip trug, konnten seine Besitzer nie ausfindig gemacht werden.

Es wurde an diesem Abend noch viel gelacht, geredet und Weihnachtslieder gesungen. Tiger und ich saßen eng umschlungen auf dem Sofa. Hin und wieder warf ich Carina einen Seitenblick zu. Sie lächelte mich an.

Als Papa mich an diesem Weihnachtstag ins Bett brachte, sagte er zu mir: "Na, da hast du dein Weihnachtswunder doch noch gehabt, was?" Ich konnte nur stumm nicken. Tiger sprang auf mein Bett und rollte sich auf meinem Bauch ein. "Frohe Weihnachten", flüsterte ich dem Kater zu, und er begann noch lauter zu schnurren. Und wer ganz genau hinhörte, konnte erkennen, dass er schnurrte: "Frohe Weihnachten, frohe Weihnachten euch allen!"


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