Es spukt nicht

Eine weihnachtliche Geschichte zum Ausdrucken und Vorlesen

Das Land war langweilig. Luise wusste es und sie war sich sicher, auch ihre Mama und ihr Papa wussten es, vielleicht sogar die Oma, die mit ihren dünnen Händen immer mit den Stricknadeln klimperte. Im Prinzip musste es doch jeder gewusst haben, das konnte doch niemandem entgangen sein. Was gab es auf dem Land denn Anderes zu tun, als aus dem Fenster zu schauen und zu hoffen, dass es an diesem Heiligabend doch noch schneien würde? Das tat es aber nicht.

Und so schmollte Luise ein wenig aus dem Fenster in den grauen Himmel und die kahlen Bäume hinein, während ihre Freundinnen Christiane und Anna zuhause bestimmt in den dicken Schneeanzügen rodeln durften. Das war nicht fair. Man hatte ihr versprochen, dass es hier Schnee gebe und weite Wälder und dass das Landleben ganz besonders sei, aber es war im Moment nur besonders grau und außerdem spukte es in dem alten Haus.

Aber Luise glaubte man ja auch das nicht. Aber sehr wohl spukte es, vor allem in ihrem Zimmer, da spukte es am meisten. Als sie sich gestern Nacht schlafen legen wollte, da hörte sie ganz deutlich ein Kratzen hinter den Wänden.

Und als sie dann zu Mama und Papa ging, sagte man ihr nur, dass es keine Geister gebe und es in diesem Haus sicher nicht spuke. Seit dem Frühstück war die Laune ein wenig verdorben.
Da hatte Luise nämlich gefragt, ob es hier erst spuke, seitdem der Opa nicht mehr da sei. Man sah sie an mit sechs großen Augen, Mama, Papa und Oma.

Aber vielleicht stimmte es doch.

Das Haus sei einfach alt, so einfach sei das, einfach nur ein altes Haus. Das knarrt und fiept nun einmal.

Ja, aber Knarren und Fiepen, das sei ja die eine Sache gewesen, es ginge ja nun hauptsächlich um das Kratzen. Luise war ein aufgewecktes, aber freches Kind und selbst für eine Achtjährige erstaunlich beharrlich in ihren Fantasien.

Und nun brachte sie den Abend am Fenster zu und starrte raus. Der Oma dürfe man so etwas nicht sagen, da solle Luise mal drüber nachdenken und nachdenken musste man offensichtlich am Fenster, aber die Mama hatte so einen Ton als sie das gesagt hatte, da war es besser, nicht mehr nachzufragen.

Aus der Küche braute sich ein weihnachtlicher Duft zusammen aus Bratwürsten und Kartoffeln und Rotkohl (zur Feier des Abends durfte Luise zum Essen sogar Kola trinken) und ein süßlicher Hauch von Zimt. Die Bescherung gäbe es aber erst nach dem Essen und auch den Präzedenzfall vom letzten Jahr als sie noch vor dem Abendbrot alle Geschenke ausgepackt hatten, galt hier wohl nicht. Und bis es Essen gab, stürmte Luise noch einmal die Treppe hoch in das kleine Zimmer, in dem sie schlief und... da kratzte es doch schon wieder und schmatzte. Irgendjemand lebte hier doch in den Wänden, Luise bildete sich das doch nicht ein.

"Opa?", rief sie vorsichtig zur Wand und hielt sich prompt den Mund zu.
Die Wand blieb stumm (wie es für Wände meist gewöhnlich ist in diesem Zeitalter).
Schließlich, als die Wand sie lange genug angeschwiegen hatte, tapste Luise mit der nötigen Demut auf die Holzwand zu. Es war sicher ein freundlicher Geist, Luise kannte ja die Geschichten, es waren doch immer freundliche Geister.

"Opa bist du das?", fragte sie noch einmal, aber sehr leise. Und schon Momente später musste sie sich selber fragen, ob das wirklich so eine gute Idee gewesen war, mit dem Geist zu sprechen. Denn aus der Wand kratzte es nun und schnalzte und fiepste und Luise rannte zurück und die Treppe hinab und war ganz außer Atem vom Rufen und Rennen und schließlich musste ihr Papa sie auf den Arm nehmen und die Treppe wieder hinauf tragen und dann waren sie zurück in dem Zimmer und sie rief wieder zur Wand und Stille folgte.

Beim Abendessen glaubte ihr wohl nun wieder niemand mehr und sie durfte nichts mehr von dem Geist erzählen. Als sie dann doch noch einmal (einmal nur!) anfangen wollte, von dem Geist zu erzählen, stand die Oma sogar vom Tisch auf und das beim Essen.

Mama und Papa sahen Luise an und den Blick kannte sie, das war der Blick, den ihre Eltern hatten, wenn sie daheim etwas vom Tisch geworfen hatte und es auf dem Boden in tausend Teile zersprungen war, so dass man es nicht mehr reparieren konnte.

Aber die Oma kam wieder, nach einer langen, schleichenden Weile und stellte Luise ein Foto vor das freche Gesicht. Da war der Opa noch jünger gewesen, erklärte man ihr, ein kräftiger, hoch gewachsener Mann mit pechschwarzen Haaren, der bis zu den Knöcheln im Schnee stand und breit und offen grinste.

"Schau ihn dir an, den Opa. So ein großer Mann. Wenn der spukt, kratzt der nicht, sondern hebt dich in die Luft und gibt dir einen dicken Kuss."

Luise schlief an diesem Weihnachtsabend zu dem sanften Kratzen hinter der Wand ein, das wie ein verstummendes Schlaflied durch die Wand kam. In der Nacht träumte Luise, dass ihr Großvater sie besuchen kam. Zumindest sagten ihre Eltern ihr, dass es ein Traum gewesen sein muss, aber Luise wusste natürlich, dass das Unsinn war. Ihr Opa war ja nachts zu ihr gekommen.
Sie hatte ihn ja auf dem Foto gesehen, so ganz sah er natürlich nicht mehr aus, alt war er geworden und ein wenig dick, aber das Lächeln hatten ihm auch die Jahre nicht nehmen können.
Schnell erklärte Luise ihm, dass sie schon gewusst hatte, dass er hier durch das Haus spuke und dass ihr nur einfach wieder nur keiner glauben wollte. Sie war ja schließlich erst acht.
Aber bald werde sie schon neun, sagte der alte Mann und beugte sich tief zu ihr hinab, sein Rücken knirschte dabei ganz ulkig, und hier spuke es außerdem nicht, so ein Unsinn über Gespenster und Geister und Kobolde, das solle sie mal bloß nicht glauben, vor allem zur Weihnachtszeit nicht. Alte Häuser hätten eben so ihre Geheimnisse.

Luise küsste ihn auf die Nase, die noch ganz kalt war von draußen.

Der alte Mann grinste rotbäckig und schüttelte sich den Schnee aus den Haaren, die kaum weniger weiß waren als die dicken Flöckchen, die nun zu Boden segelten und auch auf Luises Kopf langsam zu schmelzen begannen.

Dann zeigte sie ihm die Stelle in der Wand, wo der Geist immer kratzte. Ihr Opa grinste sein breites Grinsen, breiter noch als auf dem Foto. Sie sei wohl doch nicht so aufgeweckt gewesen, wie die Mama immer behauptete.

Luise streckte ihm die Zunge raus, ihr Großvater hob sie mit einem schnellen Ruck an und stellte sie beiseite wie ein ausgetrunkenes Glas Milch. Dann presste er einmal gegen die morsche Planke in der Wand und mit einem Klicken öffnete sich ein kleiner Abstellraum.
Luises Gesicht platzte vor Lächeln. Ein kleiner Kater tapste eifrig auf sie zu, ein pechschwarzer Rücken, die Pfötchen weiß wie Schnee. Er schmiegte sich um Luises Knöchel und gab hohe Töne von sich.
Wo er hergekommen war, wusste sie nicht, aber am nächsten Morgen war er auch noch da und schlief neben ihrem Gesicht. Er presste seine kalte Nase gegen ihre Wange und kuschelte sich mit einem zufriedenen Grinsen an sie.

Nachdem ihre Eltern darauf bestanden hatten, dass man in der Nachbarschaft fragte, wer den Kater verloren hatte, aber sich niemand meldete, durfte Luise ihn sogar mit nach Hause nehmen. Sie nahm das tapsige Tier auf ihren Schoß und presste ihn an ihre Brust und wenn sie ihm ein Stück Fleisch vor die Nase hielt, begann er zu schielen und seine Zunge kitzelte, wenn er über ihre Finger schleckte.

Auf der Heimfahrt schlief er selig grinsend auf ihrem Schoß. Luise musste dem Kater nur noch einen Namen geben.


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